• Vortragstext
  • Mai 2022

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Als mich Soheyla Mielke gefragt hat, ob ich etwas unter der Überschrift: „Doch! Das Gute liegt so nah“, machen möchte, also unter dem Motto des Sommerprogramms der Volkshochschule Unteres Remstal, dachte ich, dass das Nahe, also das Remstal, und das Gute – für mich nicht zuletzt Frankreich - zusammenpassen könnten.

Warum ist für mich Frankreich „das Gute“? Nun, Frankreich spielte und spielt für mich durch verschiedene familiäre Verbindungen eine wichtige Rolle. Meine Mutter war sehr frankophil und meine Schwester lebt in Paris und hat dort Kinder und Enkelkinder. Dann engagiere ich mich seit Langem im Stuttgarter Förderverein Deutsch-Französischer Kultur. Der Verein hat das Ziel, zum Kulturdialog zwischen dem französisch- und dem deutschsprachigen Raum beizutragen und dadurch das gegenseitige Verständnis zu verbessern. Auf jeden Fall ist es immer ein Vergnügen, französisches Essen und Trinken, Kultur und Literatur kennen zu lernen und dabei auch anderen den Zugang dazu zu ermöglichen.

Ich stelle immer wieder fest, dass viele Deutsche - und das gilt auch für viele Franzosen - nur wenig über ihre Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins wissen. Das liegt sicher an mangelnden Sprachkenntnissen - weniger als 20% der französischen und der deutschen Schüler lernen die jeweils andere Sprache. Ich denke aber, dass noch einschneidender ist, dass sich Franzosen und Deutsche seit der gemeinsamen Zeit im Fränkischen Reich sehr verschieden entwickelt haben. Dadurch entstehen Missverständnisse, Unverständnis, Distanz. Ich bin allerdings überzeugt davon, dass Europa nur gedeihen kann, wenn das deutsch-französische Verhältnis gut ist. Das geht aber nur, wenn man sich kennt. Und sich kennen, heißt ja nicht zuletzt, die Geschichte des anderen kennen.

Als ich mich intensiver mit den Beziehungen zwischen dem Remstal und Frankreich beschäftigt habe, musste ich allerdings feststellen, dass es die Kombination in sich hat. Die Beziehungen waren in der Tat äußerst vielfältig. Ob sie gut waren, ist eine andere Frage.

Denn leider stolpert man geradezu über das Ungute, während man das Gute suchen muss, wird dann aber doch durch das eine oder andere schöne Fundstück belohnt. Ich lade Sie jetzt auf eine Spurensuche ein. Dabei führe ich Sie zuerst durch die Jahrhunderte in Tiefen und auf Höhen. Im 2. Teil der Veranstaltung freue ich mich, wenn Sie ihre Geschichten und Erfahrungen, aber auch gern einfach Meinungen und Einstellungen zur Diskussion beisteuern. Vielleicht gelingt es uns dann ja, eine Art Resumée zu ziehen. Zunächst noch ein paar Sätze zu mir: Ich bin zwar in Stuttgart geboren. Aber als ich 6 Jahre alt war, sind meine Eltern nach Winterbach gezogen. Die Orientierung war dort natürlich in Richtung Schorndorf und nicht nach Waiblingen, ich bin also ein Mittel-Remstäler.


Beruflich war ich 30 Jahre Redakteur im Kulturradio von Süddeutschem Rundfunk und Südwestrundfunk. Meine Kollegen dort stammten zu einem großen Teil nicht aus dem Ländle. In den Diskussionen kam ich öfter in die Situation, Schwaben und Württemberg zu verteidigen.

Um mich für diese Auseinandersetzungen zu wappnen, musste ich mich mit der württembergischen Geschichte befassen, und habe das auch gern getan. Dabei stolpert man ja geradezu über das Remstal. Das wissen die eingefleischten Remstäler natürlich. Die bitte ich jetzt um Entschuldigung, wenn ich einige Dinge sage, die Ihnen vertraut sind. Aber ich muss ein Fundament bauen – kein Betonungetüm, nur ein Weinbergmäuerle - damit man versteht, warum es keine größenwahnsinnige Idee eines Provinzlers ist, das große Frankreich mit dem winzigen Remstal in Beziehung zu setzen.

Zunächst Waiblingen. Dort gab es eine Königspfalz – wo genau, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall hat der fränkische Kaiser Karl III. im Jahr 885 eine Urkunde in Waiblingen unterzeichnet. Damals waren das spätere Frankreich und das spätere Deutschland noch vereint, genauer gesagt, noch einmal kurz wiedervereint.

Die Waiblinger Pfalz war auch anschließend ein wichtiges Gut der Könige und Kaiser der Ottonen, Salier und Staufer. Der Kampfruf der Staufer war „Waiblingen“. Um das Jahr 1200 war er in Italien so bekannt, dass der Name Ghibellini, die italienische Form von Waiblinger, in den verschiedenen Fraktionskämpfen für die relativ kleine Partei der Stauferfreunde verwendet wurde – im Gegensatz zur großen Gegenpartei, den Guelfen, die nach dem Adelsgeschlecht der Welfen hießen.

Ein weiterer Schwerpunkt der Staufer war am Oberlauf der Rems: Das Kloster Lorch, die Reichsstadt Schwäbisch Gmünd und ganz in der Nähe die Burg Hohenstaufen. Wo der erste Stauferkaiser, Friedrich Barbarossa, geboren wurde, ist nicht belegt. Das elsässische Hagenau konkurriert mit Waiblingen darum.

Beurkundet ist aber, dass am Unterlauf der Rems die Wiege Württembergs lag. Die Stammburg, der Rotenberg liegt zwar über dem Neckar, aber auf einem Ausläufer des Schurwalds, der über rund 50 km den Südhang des Remstals bildet. Das Remstal war württembergisches Kernland. Das ist sicher auch der Grund dafür, dass der württembergische Aufstand des Armen Konrad von dort losbrach, genau in Beutelsbach, sein Zentrum war in Schorndorf. Der Arme Konrad war eine friedliche Revolution, die im Jahr 1514 für die Abschaffung der Adelsprivilegien und für Demokratie eintrat. Das waren ja nun auch die Ziele der Französischen Revolution 250 Jahre später.

Schließlich verliefen im Remstal wichtige Verkehrsverbindungen. 1777 soll Kaiser Josef II bei einer Reise durch Württemberg das Remstal als „wunderschönen Garten Gottes“ bezeichnet haben. Ob das Zitat wirklich von Joseph ist oder auch nicht, ist nicht sicher. Aber etwas wird dadurch deutlich: Offenbar kam man durchs Remstal, wenn man nach Württemberg reiste, ob als Kaiser, einfacher Handwerksbursche oder Soldat, denn hier verliefen wichtige Verkehrsverbindungen: Heer- und Handelsstraßen.

Ich fürchte, dass ich Ihnen bisher nicht viel Neues erzählt habe. Aber ich möchte zunächst betonen, was das Remstal war: ein politisches Zentrum, auch ein wirtschaftlich bedeutendes Gebiet – dazu gleich mehr - und zudem eine Verkehrsader, und das in der Mitte des damaligen Europa. Da konnte es gar nicht ausbleiben, dass der bedeutende Nachbar des heiligen römischen Reichs, des Sainte Empire wie es auf Französisch heißt, La France, auch im Remstal spürbar war, und zwar deutlich.


Fangen wir mit etwas Erfreulichem an, dem Weinbau. Bis in die 1990er Jahre waren Remstalweine mit wenigen Ausnahmen bei Weinkennern nicht besonders beliebt – Massenweine, zu süß, geschmacklich nicht besonders differenziert. Das hat sich vollkommen geändert. Bei lediglich 10 Prozent der Anbaufläche kommt heute rund die Hälfte der baden-württembergischen Spitzenweine aus dem Remstal. Und so war es schon mal, nämlich vor dem 30-jährigen Krieg. Da war das Remstal ein 1 A Weinbaugebiet und der Remstäler Wein trug ganz wesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung der Region bei.

Ablesen kann man diese Entwicklung am sagenhaften Aufstieg der Stadt Schorndorf bis zum Jahr 1500. Um 1200 war da, wo heute Schorndorf steht, keine Stadt, nicht einmal ein großes Dorf wie zum Beispiel das benachbarte Winterbach, in dessen Königshof Kaiser Heinrich III. schon 200 Jahre bevor Schorndorf zum ersten Mal erwähnt wurde, eine Urkunde ausgestellt hat. Die Stelle, wo heute Schorndorf steht, wird erst 1236 in einer Urkunde erwähnt. Dort befand sich ein kleines Rittergut eines Dietericus de Shorendorf. Das war alles.

200 Jahre später steht dort eine bedeutende Stadt mit den damals modernsten Befestigungsanlagen. Im Jahr 1431 ist Schorndorf Gastgeber für den König und späteren Kaiser Sigismund. Und auch sonst treffen sich dort im 14. und 15. Jahrhundert immer wieder wichtige Fürsten und Vertreter der Mächtigen mit den württembergischen Grafen. Nicht das ältere und ursprünglich viel bedeutendere Waiblingen wird das Zentrum des Remstals, sondern Schorndorf.

Waiblingen hat Pech gehabt. Es stand als Hauptort Württembergs zur Wahl, verlor aber gegen Stuttgart. Und in einer Auseinandersetzung der Grafen von Württemberg gegen das Reich in den Jahren 1291 bis 93 wurde es stark zerstört. Schorndorf dagegen entwickelt sich zu einem reichen Handelszentrum nicht zuletzt durch den Weinexport in den Osten, das heißt damals in Richtung Bayern und in die wohlhabende Reichsstadt Augsburg und wird nach Stuttgart und Tübingen zur drittwichtigsten Stadt Württembergs.

Und welche Weine werden im Remstal angebaut? Damals gibt es noch keinen Trollinger und auch keinen Riesling. Wichtige Sorten sind der Grauclevner, heute als Grauburgunder bekannt, der Gutedel, eine Weinsorte, die aus einem burgundischen Örtchen namens Chasselas stammt, weshalb der Wein auf Französisch auch Chasselas heißt, der Frühburgunder und der Spätburgunder. Und wie kamen die Burgunder Sorten zu uns? Möglicherweise über die württembergischen Besitzungen westlich des Rheins: die kleinen elsässischen Herrschaften und vor allem die große Grafschaft Montbéliard, auf Deutsch Mömpelgard, in Burgund. Übrigens Montbéliard war auch im Mittelalter „echtes“ Frankreich, dort wurde immer Französisch gesprochen.

Diese französischen Besitzungen Württembergs kommen durch Heiratspolitik und Kauf nach Württemberg, nicht durch Krieg. Sie spielen zunächst keine besondere Rolle beim Aufstieg Württembergs von einer unbedeutenden Grafschaft zu einem wichtigen Herzogtum im Heiligen Römischen Reich. Aber ich denke, dass ihre Wirkung nicht unterschätzt werden darf. Durch sie kommen burgundische und französische Produkte, Gedanken und Kultur über den Rhein.

Nachgewiesen und dokumentiert ist dieser Einfluss auf jeden Fall bei Hölderlin, Hegel und Schelling. Während ihrer Ausbildung im Tübinger Stift erfahren sie von ihren Kommilitonen aus Montbéliard von den Ideen der französischen Revolution und diskutieren eifrig mit ihnen darüber.


Zurück ins Remstal: Zu Beginn der Neuzeit ist erst einmal Schluss mit Frieden und gedeihlicher Entwicklung. Das Remstal erlebt vor allem Krieg, Plünderung, Zerstörung. Nach dem dreißigjährigen Krieg den pfälzischen Krieg und dann den spanischen Erbfolgekrieg.

Dass das Remstal eine wichtige Verkehrsader ist, zeigt sich auf schlimme Weise nach der Schlacht von Nördlingen, im Jahr 1634. Sie ist eine der größten und wichtigsten Schlachten des 30-jährige Kriegs. Die katholische Partei siegt, die Evangelischen werden geschlagen, fliehen in Richtung Westen vor allem durchs Remstal und werden von den katholischen Truppen verfolgt. Die Soldateska beider Parteien raubt, plündert, vergewaltigt und legt die Dörfer und Städte in Schutt und Asche. Schorndorf und Waiblingen werden fast völlig niedergebrannt. Bis 1646 besetzen kaiserliche Truppen das Gebiet, dann kommt noch französisches Militär, bis das Land nach dem Westfälischen Frieden 1648 endlich aufatmen kann.

Aber kaum haben sich die Menschen einigermaßen von den Gräueln erholt, erreicht sie die nächste Plage. Von 1688 bis 1697 kämpft Frankreich gegen Österreich um die Vorherrschaft in West- und Mitteleuropa. Württemberg und das Remstal werden wieder Kriegsschauplatz. Württemberg hat damals kein stehendes Heer und kann sich nicht verteidigen, mit Ausnahme einiger weniger Festungen und befestigter Städte, darunter Schorndorf, aber nicht Stuttgart. Französische Truppen plündern und brandschatzen im ganzen Land. Der französische General Mélac zieht mit seinen Truppen vom unbefestigten Stuttgart durchs Remstal nach Schorndorf, das zu der Zeit von gut ausgebauten Verteidigungsanlagen umgeben ist. Die damals in Stuttgart regierende Herzogin und ihre Räte sind zur Kapitulation bereit und befehlen der Festungsstadt im Osten des Landes, sich zu ergeben.

Der Schorndorfer Festungskommandant Günther Krummhaar weigert sich aber, den Befehl aus Stuttgart auszuführen und wird dabei von der Bürgerschaft unterstützt. Als Räte aus Stuttgart angereist kommen, um den Beschlüssen der Regierung Nachdruck zu verleihen, fällt der Magistrat um und will die Stadt übergeben. Als das bekannt wird, stürmt die Bevölkerung das Rathaus. Dabei tun sich vor allem die Frauen der Stadt hervor. Dadurch gestärkt setzt sich Krummhaar durch und verbietet, dem Feind die Tore der Stadt zu öffnen. Offenbar hat Mélac keine Lust auf eine Belagerung und lässt seine Truppen brennend, plündernd und vergewaltigend abziehen. So entsteht die Geschichte von den mutigen Weibern von Schorndorf.

Ich denke, dass die Entschlossenheit der Schorndorfer Frauen zwar nicht der einzige Grund für die Rettung Schorndorfs in diesem Krieg ist, aber doch nicht unwichtig, möglicherweise sogar entscheidend. Die Frauen wissen aus den Ereignissen des dreißigjährigen Krieges genau, was ihnen blüht, wenn eine fremde Soldateska die Stadt besetzt. Dass sie möglicherweise das Leid lediglich von sich auf die schutzlose Landbevölkerung ablenken, kann man ihnen nicht vorwerfen.

Noch heute erinnert in Schorndorf eine etwas zwielichtige Wirtschaft namens Mélac an diese Zeit. Als Schüler sind wir in Hohlstunden gern dort hingegangen. Das war natürlich nicht gern gesehen und deshalb ein bisschen abenteuerlich. Ich habe festgestellt, dass es den Mèlac immer noch gibt und dass er immer noch dasselbe Ambiente hat.


Kaum haben die Remstäler diese Heimsuchung überstanden, kommt der spanische Erbfolgekrieg und wieder fallen fremde Truppen über das Land her. Es geht darum, ob ein Österreicher (Erzherzog Karl) oder ein Franzose (Philippe von Anjou) spanischer König wird. Der württembergische Herzog Eberhard Ludwig schließt sich Österreich an, das von England unterstützt wird. Frankreich ist mit Bayern verbündet. Das bedeutet, dass Württemberg in der Klemme sitzt, Truppendurchzugsgebiet von Frankreich nach Bayern wird. Und das Militär bewegt sich nicht zuletzt durchs Remstal.

Und jetzt kommen wir endlich nach Heppach, zwar nicht nach Klein-, dafür aber nach Großheppach. Dort findet 1704 eine Begegnung von internationalen Spitzenmilitärs statt. Teilnehmer sind: Ludwig Wilhelm von Baden, wegen seiner Erfolge gegen die türkische Invasion in Österreich Türkenlouis genannt, Prinz Eugen von Savoyen, der Chef des österreichischen Militärs, und John Churchill, 1. Duke of Marlborough, direkter Vorfahre des englischen Premierministers Churchill. Sie beraten im Gasthof Lamm, den es heute noch gibt, über das Vorgehen gegen die französischen und bayerischen Truppen. Ergebnis dieses Kriegsrats ist ein gemeinsames Vorgehen der Habsburger und Briten mit den Truppen des Reichs und die Schlacht bei Höchstädt in Bayern, in der die Franzosen und Bayern besiegt werden. Allerdings verhindert das nicht, dass französisches Militär drei Jahre später wieder nach Württemberg kommt, Stuttgart und Cannstatt einnimmt, dann durchs Remstal nach Schorndorf zieht und die Festung besetzt. Ihr Hauptquartier befindet sich in Beutelsbach. Die Bevölkerung muss wieder Einquartierungen, Reparationen, Plünderungen und Schlimmeres ertragen.

Alle Franzosen kennen diesen Krieg bis heute, und zwar vermittelt über ein sehr bekanntes (Kinder)-Lied, das eigentlich eher nicht für Kinder geeignet ist. Es sind ja einige Franzosen hier und ich schlage vor: wir singen es jetzt gemeinsam:
Malbrough s’en va-t-en guerre. Historisch stimmt das aber nicht. Marlborough ist nach einem Schlaganfall in seinem Schloss in England mehr oder weniger friedlich gestorben: ein früher, sehr gut belegter Fall von äußerst erfolgreicher Geschichtsklitterung.

1714 ist der spanische Erbfolgekrieg zuende und von da an kehrt im Remstal einigermaßen Ruhe ein, zumindest bis zu den Napoleonischen Kriegen 100 Jahre später, als wieder riesige Truppenkontingente – deutsche und französische - durch das Tal ziehen, requirieren, immense Reparationen einziehen, Schäden anrichten. Allerdings kommt es nicht mehr zu direkt kriegerischen Handlungen.


Genug vom Krieg. Es ist Zeit, endlich wieder ein erfreulicheres Französisch- Remstälerisches Kapital aufzuschlagen, und das gibt es: Karl Friedrich Reinhard ist der Sohn eines evangelischen Pfarrers aus Schorndorf. Und nicht zu glauben, der Mann hat es bis zum französischen Außenminister gebracht.

Er wird 1761 in Schorndorf geboren, ist also 10 Jahre älter als die Generation von Hölderlin und Hegel, durchläuft aber die selben Stationen: Seminar in Maulbronn, Tübinger Stift, Universität Tübingen. Die Zeit im Seminar und am Stift beschreibt Reinhard als trübsinnig und freudlos. Das Theologiestudium bringt ihm nichts. Erst sein anschließendes Studium an der Universität Tübingen macht ihm Freude, vor allem das Sprachstudium, nicht zuletzt Französisch.

1787 geht er als Hauslehrer nach Bordeaux und beteiligt sich 2 Jahre später begeistert an der französischen Revolution, und zwar aufseiten der gemäßigten Liberalen, der Girondisten. Die haben, wie der Name sagt, ihr Zentrum an der Gironde, also in Bordeaux. Er geht nach Paris und lernt dort wichtige Leute kennen, mit denen er sich befreundet und die ihn fördern; nicht zuletzt der bedeutende Politiker und Diplomat Charles-Maurice de Talleyrand. Mit ihrer Hilfe macht er Karriere im diplomatischen Dienst, wird Gesandter des revolutionären Frankreich in London und Neapel. Im Herbst 1793 wird Reinhard nach Paris zurückbeordert und entgeht nur knapp der Guillotine. Inzwischen hat nämlich die Terrorherrschaft begonnen und fast alle Ausländer werden als Konterrevolutionäre verdächtigt. Aber Reinhard hat da und auch später Glück. Während der anschließenden Herrschaft des Directoire wird er als Botschafter in die deutschen Hansestädten geschickt, dann in die Toskana. 1799 ernennt ihn das Directoire zum Außenminister. Er bleibt aber nur zweieinhalb Monate im Amt, dann ergreift Napoleon die Macht. Aber auch der verwendet Reinhard weiter als Gesandten. Auf einer seiner Reisen im Auftrag Napoleons lernt er Goethe kennen und befreundet sich mit ihm.

Nach der Verbannung Napoleons erreicht Reinhard mithilfe seiner Freunde, dass er weiter im diplomatischen Dienst bleiben kann, sowohl unter Ludwig XVIII. als auch unter dem Bürgerkönig Louis Philippe. Erst wird er als Gesandter nach Frankfurt zum Deutschen Bund geschickt, dann nach Dresden. Schließlich beruft ihn Louis Philippe als Pair in die 2. französische Kammer, sozusagen das französische Oberhaus. Reinhard stirbt 1837 in Paris und ist auf dem Friedhof Montmartre begraben.


Und noch eine Schorndorfer Persönlichkeit muss ich erwähnen, weil sie wichtig ist für das Frankreichbild, das in Deutschland im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewusst gepflegt und weiter gereicht wurde. Allerdings ist sein Schicksal nicht so völkerverbindend wie das Reinhards, ganz im Gegenteil: Der Mann heißt Johann Philipp Palm und ist 5 Jahre nach Reinhard, im Jahr 1766, in Schorndorf geboren. Er macht ein Buchhändlerlehre bei seinem Onkel in Erlangen und arbeitet dann in der Buchhandlung Stein in Nürnberg. Er heiratet die Tochter seines Chefs, Anna Maria Stein, und erbt die Buchhandlung seines Schwiegervaters.

Nach der Besetzung Nürnbergs durch Napoleon im Frühjahr 1806 kommt in der Buchhandlung Stein eine Schrift heraus mit dem Titel „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“. Darin wird zum Widerstand gegen die französische Besatzung und gegen Bayern aufgerufen, das mit Napoleon verbündet ist. Als die französische Besatzungsmacht das Buch entdeckt, wird Palm verhaftet und in die französisch besetzte Festung Braunau am Inn gebracht. Ein französisches Militärgericht verurteilt ihn auf direkten Befehl Napoleons am 25. August 1806 zum Tode. Am nächsten Tag wird er erschossen. Palm hat die Verfasser der Schrift nicht verraten.

Mit der Schaffung des Königreichs Württemberg durch Napoleon, der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 70 Jahre später und der Industrialisierung verliert das Remstal seine herausgehobene Stellung und wird zum Umland der aufsteigenden Industriestadt Stuttgart.

Das Verhältnis zu Frankreich ist seit dem sogenannten 70er Krieg vor allem durch Konkurrenz, Feindschaft und Krieg geprägt. Es gibt nicht viel Gutes, das auf ein besseres Verhältnis der beiden Länder hoffen lässt. Aber man findet es doch, wenn man intensiv sucht. Ausgerechnet im April 1945 habe ich einen solch kleinen Hoffnungsschimmer gefunden, und zwar am Oberlauf der Rems, in Schwäbisch Gmünd.

Im 2. Weltkrieg wurde ungefähr eine Million Französinnen und Franzosen gezwungen, in Deutschland zu arbeiten. Ihre Arbeits- und Lebensbedingungen waren meist katastrophal, viele wurden wegen lächerlicher Übertretungen willkürlicher Anordnungen unterdrückt oder ermordet. So etwas ist zum Beispiel in Schmiden passiert. An diese Verbrechen muss erinnert werden. Trotzdem will ich jetzt zum Schluss eine andere Geschichte erzählen: Die Einwohner von Schwäbisch Gmünd hatten unglaublich Glück mit den französischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern, die in ihrer Stadt arbeiten mussten, und zwar weil es in Gmünd eine relativ große Gruppe der Résistance gab. Im Herbst 1944 kam ein Hauptmann Paul Lémal nach Gmünd. Offiziell fungierte er als Abgesandter der mit den Nazis zusammenarbeitenden Vichy- Regierung und als Betreuer der französischen landwirtschaftlichen Arbeiter in Württemberg. In Wirklichkeit hatte er die Aufgabe, die Mitglieder der Résistance in Gmünd anzuleiten. Lémal sagte nach dem Krieg, dass es unter den französischen Zwangsarbeiten in Gmünd etwa 150 Mitglieder der Résistance gegeben hatte.

Ende April näherten sich die amerikanischen Einheiten Gmünd durch das Remstal. Glücklicherweise gab es vonseiten der Wehrmacht keinerlei Initiative, die Stadt zu verteidigen. Trotzdem bestand die Gefahr, dass Gmünd beschossen und zerstört würde, wenn es nicht zur offenen Stadt erklärt wurde. Als Lémal das bemerkte versuchte er, beim Landrat und beim stellvertretenden Bürgermeister – der Oberbürgermeister war schon getürmt - zu erreichen, dass diese eine solchen Anordnung herausgaben – vergeblich. Schließlich schickte er Mitglieder der Résistance zu den Amerikanischen Einheiten. Seine Initiative war erfolgreich und die Stadt wurde unzerstört übergeben.

Mai 2022

Ralf Kröner