• Fakten
  • Oktober 2021

Ralf Kröner im Gespräch mit Catherine Gebhardt-Bernot

1.) Einleitung

Tankred Dorsts Drama über die Münchner Räterepublik wurde im Jahr 1968 im Stuttgarter Staatstheater uraufgeführt. Wir durften mit der Schule eine Aufführung besuchen und waren fasziniert. Revolution, Räterepublik – diese Themen waren für meine Freunde und mich – wir waren damals 16 - unglaublich spannend. Und als dann drei Jahre später an 100 Jahre Pariser Commune erinnert wurde, war unser Interesse noch gewachsen.

Damals waren die Fragen, die die Commune aufgeworfen hat, sehr aktuell, wie der Publizist Sebastian Haffner in einem Essay für die Zeitschrift „Stern“ im Frühjahr 1971 schrieb: 
„In den 72 Tagen der Pariser Commune ging es zum erstenmal um Dinge, um die heute in aller Welt gerungen wird: Demokratie oder Diktatur, Rätesystem oder Parlamentarismus, Sozialismus oder Kapitalismus, Säkularisierung, Volksbewaffnung, Frauenemanzipation – alles stand in diesen Tagen plötzlich auf der Tagesordnung, von allem findet man in der Commune spontane Urformen.“

Das schrieb Haffner vor 50 Jahren und ich denke, ein Großteil der Fragen sind immer noch oder auch wieder im Jahr 2021 aktuell.


2.) Historische Fakten

Was bedeutet der Name Commune?

Commune bedeutet Gemeinde. Geht es also um kommunale Selbstverwaltung?  So einfach war es nicht. Was die Commune eigentlich war oder sein sollte oder könnte, darüber gab es damals unterschiedliche Auffassungen und viele Diskussionen. Man kann sie nur verstehen, wenn man sich anschaut, wie die Forderung nach der Commune entstanden ist: 
Nach der Niederlage Napoleons III. gegen die deutschen Truppen in Sedan und seiner Gefangennahme durch die Preußen wurde am 4. September 1870 in Paris die Republik ausgerufen und eine Regierung der nationalen Verteidigung gebildet. Bismarck gab sich aber nicht mit der Niederlage einer französische Armee in Sedan zufrieden. Er wollte Frankreich ganz besiegen, um es grundsätzlich zu schwächen und die Vorherrschaft auf dem Kontinent zu erreichen. Er forderte von Frankreich die Abtretung von Elsass-Lothringen und enorme Reparationen. Das konnte die französische Regierung nicht akzeptieren. Der Krieg ging weiter, nun als Volkskrieg gegen die deutschen Eindringlinge.

Am 28. Oktober 1870 kapitulierte eine weitere französische Armee, die bis dahin in der Festungsstadt Metz eingeschlossen war und diese verteidigt hatte. Nochmal 150 000 französische Soldaten kamen in deutsche Kriegsgefangenschaft. Dann erlitt die Pariser Nationalgarde zusammen mit Freischärlern eine Niederlage gegen deutsche Truppen im Norden von Paris beim Dorf Le Bourget (dort befindet sich heute der Großflughafen Charles de Gaulle.) Die Nationalgarde war eine Volksmiliz und hatte ihre Wurzeln in der französischen Revolution von 1789. 1870/71 wurde sie reaktiviert, im Frühjahr 1871 waren rund 300 000 Pariser Mitglied der Nationalgarde; ihre Aufgabe war es, die Hauptstadt zu verteidigen. Als es hieß, dass Waffenstillstandsverhandlungen aufgenommen werden sollen, besetzten am 31. Oktober Demonstranten das Rathaus, das Hôtel de Ville, in dem gerade die Regierung tagte. Sie forderten die entschlossene Verteidigung der Stadt und die Commune. Vereinzelt war die Forderung nach der Commune schon vorher erhoben worden. Paris wurde nämlich von Präfekten regiert, die von der Regierung eingesetzt waren. Zwar wurde nach dem Sturz Napoleons im September 1870 ein Bürgermeister berufen, aber es gab keine Strukturen der Selbstverwaltung. Am Abend des 31. Oktober wurde die Regierung von einem Bataillon der Nationalgarde befreit, obwohl die Mehrheit der Nationalgardisten mit den Aufständischen sympathisierten. Zur Ablenkung und als Trostpflaster organisierte die Regierung Anfang November Wahlen in den Pariser Arrondissements. Gewählt werden konnten die Bezirksbürgermeister und jeweils drei Stellvertreter.

Aber das war nicht die Commune, die die Demonstranten gefordert hatten. Die entstand erst im März 1871. Was war sie? Darüber wurde viel und wird auch heute noch heftig diskutiert. Der Anarchist und Kommunist Pjotr Kropotkin hat auf einer großen Demonstration in London, die zwei Jahre nach dem Ende der Commune stattfand, seine Sicht folgendermaßen dargestellt:
„Die Commune tat nur wenig, doch das Wenige, was sie tat, genügte um eine große Idee in die Welt zu setzen: dass die arbeitenden Klassen durch die Vermittlungsinstanz einer Commune sich selbst regieren können – der Gedanke, dass der Staat nicht von oben, sondern von unten aufgebaut werden sollte, dass die Natur so etwas wie die Rechte des Privateigentums nicht kennt.“


3.) Vorgeschichte

In der Mitte des vorletzten Jahrhunderts war Frankreich nach England das entwickeltste Land der Welt. Es hatte eine starke Industrie, eine starke Armee, eine zentrale Regierung und Verwaltung, und der Großteil des Landes war bereits durch Eisenbahnlinien erschlossen. In den größeren Städten bildete sich eine selbstbewusste Arbeiterschaft.  Auf der anderen Seite war die Bevölkerung auf dem Land, in „la France profonde“ – dem tiefen Frankreich - noch vielfach in vormodernen Verhältnissen und Vorstellungen gefangen.

Man kann wohl feststellen, dass das Regime von Napoleon III. eine Antwort auf diese Gegensätze und Brüche war. Der Neffe des „großen“ Napoleon war 1848 durch eine bürgerliche Revolution an die Macht gekommen und zum Präsidenten der 2. französischen Republik gewählt worden. Schon damals hatten die Pariser Arbeiter einen großen Anteil an der Revolution, wurden aber massiv unterdrückt, als sie auf der Erfüllung ihrer Forderungen beharrten.
Drei Jahre später, im Dezember 1851, verwandelte Napoleon die Republik durch einen Staatsstreich in das 2. französische Kaiserreich, eine autoritäre Monarchie, und machte sich selber zum Kaiser. Das 2. Kaiserreich wurde durch das Großbürgertum und vor allem durch die Landbevölkerung unterstützt. 
Ende der 1860er Jahre stieg der innenpolitische Druck und Napoleon machte verschiedene Manöver, um den Deckel auf dem Topf zu halten. Sie gipfelten in der Kriegserklärung an Preußen und den Norddeutschen Bund am 19. Juli 1870 und Napoleon merkte gar nicht, dass er Bismarck damit einen großen Gefallen tat. Der Feldzug gegen den Konkurrenten Preußen geriet zum Desaster. Am 2. September kapitulierte eine französische Armee, bei der sich Napoleon befand, im Städtchen Sedan an der belgischen Grenze.

Die 3. französische Republik, die sich daraufhin bildete, führte den Krieg gegen die Deutschen weiter. Aber im Winter verschlechterte sich dann die Lage, nicht nur im hungernden Paris, das von deutschen Truppen eingeschlossen war. Auch im ganzen Land gerieten die französischen Truppen immer mehr in die Defensive.

Schließlich begannen die deutschen Militärs an der Jahreswende 1870/71 mit der Beschießung der Hauptstadt. Ein Ausfall der Verteidiger am 19. Januar 1871 scheiterte, daraufhin bat die französische Regierung Bismarck um Waffenstillstandsverhandlungen.

Am 22. Januar kam es erneut zu einer großen Demonstration vor dem Pariser Rathaus, die blutig unterdrückt wurde. Am 28. Januar unterzeichneten der französische Außenminister Jules Favre und Otto von Bismarck den Waffenstillstand im deutschen Hauptquartier in Versailles. Er legte die Übergabe eines Teils der Festungen an die Deutschen fest, die Stadt selbst blieb mit Ausnahme von zwei Arrondissements im Südwesten unbesetzt und die Nationalgarde wurde nicht entwaffnet. Der Waffenstillstand sollte zunächst drei Wochen dauern und in dieser Zeit sollten Wahlen in ganz Frankreich durchgeführt werden. Die Monarchisten gewannen die Wahl mit großer Mehrheit, „Chef du pouvoir exécutif“ wurde Adolphe Thiers.

Die emsige Regierung Thiers und das nationale Parlament, die in Versailles tagten, wollten jetzt keine Zeit verlieren und die Ordnung in ihrem Sinn wiederherstellen. Am 10. März 1871 wurden verschiedene kriegsbedingte Erleichterungen für die Bevölkerung zurückgenommen: Die Leihhäuser konnten jetzt wieder nicht rechtzeitig ausgelöste Pfandstücke verkaufen, wodurch viele arme Familien Teile ihres Hausstands verloren. Ebenso wurde das Schuldenmoratorium aufgehoben, was Tausende von Insolvenzen nach sich ziehen würde. Die Hausbesitzer durften gestundete Mieten eintreiben, was für Tausende Mieter Verschuldung und Obdachlosigkeit bedeutete, und schließlich sollten nur noch bedürftige Nationalgardisten den Tagessold von 1,50 Francs erhalten.

Am 15. März kam die Regierung Thiers nach Paris. Am selben Tag wählten die Delegieren von 215 Bataillonen der Pariser Nationalgarde, die sogenannte Föderation der Nationalgarde, ein Zentralkomitee. Nur 55 Bataillone verweigerten ihre Beteiligung. In den 'unsterblichen Grundsätzen der Föderation' heißt es:
„Die französische Republik zuerst, dann die Weltrepublik. Keine stehenden Heere, sondern die Nation in Waffen (… ). Keine Könige, keine Herren, keine ernannten Vorgesetzten, sondern verantwortliche und absetzbare Funktionäre ... .“

Für den 18. März beschloss die Regierung Thiers, die Geschütze der Nationalgarde sicherzustellen. Die reguläre Armee sollte sie beschlagnahmen und wegbringen. Dazu muss man wissen, dass die Nationalgarde während der deutschen Belagerung von Paris viele Geschützrohre gießen ließ. Dafür wurde zu Spendenaktionen aufgerufen, die auch der berühmte Dichter Victor Hugo unterstützte. Abgesehen davon hatte die Nationalgarde in den Nachkriegswirren Kanonen der regulären Armee an sich gebracht. Mit der Begründung, sie vor den deutschen Besatzern in Sicherheit zu bringen, wurden sie an verschiedenen Plätzen innerhalb der Stadt zusammengezogen; viele auf dem Montmartre und auf dem Hügel Buttes-Chaumont im Osten der Stadt. 


4.) Wie die Commune entsteht.

Als sich am frühen Morgen des 18. März reguläre Einheiten, oft unter Führung alter napoleonischer  Vorgesetzter, daran machten, die Geschütze wegzuschaffen, bemerkten das zunächst vor allem Frauen aus dem Volk, die schon früh unterwegs waren. „Was macht Ihr da?“, fragten sie die Soldaten, dann erfuhren auch die Pariser Männer, was los ist, viele waren Mitglieder der Nationalgarde. Demonstranten stellten sich den regulären Einheiten entgegen, darunter viele Frauen, oft mit ihren Kindern an der Hand. Schließlich liefen  Soldaten der regulären Einheiten zur Nationalgarde über, die inzwischen Front gegen den Abtransport ihrer Geschütze machte.

Am Montmartre kam es dann zu dem berüchtigten Zwischenfall: Der ehemalige Chef der Nationalgarde, Thomas, der zur Regierung Thiers hielt, war in Zivil auf dem Montmartre unterwegs, um sich ein Bild von den Geschehnissen zu machen. Er wurde entdeckt, gefangen genommen und später zusammen mit dem General Lecomte von der aufgebrachten Menge erschossen. Nationalgardisten versuchten noch, die beiden Gefangenen zu schützen – vergeblich. Lecomte sollte den Abtransport der Geschütze vom Montmartre leiten und hatte am Morgen Soldaten eines Regiments befohlen, das Feuer auf Demonstranten zu eröffnen. Die hatten aber den Befehl verweigert und sich mit der anrückenden Nationalgarde verbrüdert.

Im Laufe des 18. März wurden Barrikaden errichtet, das Rathaus wurde besetzt, die Nationalgarde übernahm die Macht in der Hauptstadt.
Thiers und seine Regierung setzten sich nach Versailles ab und verordneten, dass höhere und mittlere Verwaltungsbeamte und die regulären Truppen ihnen folgen müssten.

Das war die große Stunde des Zentralkomitees der Nationalgarde, aber war es darauf vorbereitet? Der Schriftsteller Edouard Auguste Moreau, der während der deutschen Belagerung in der Nationalgarde gekämpft hatte und Mitglied des Zentralkomitees war, schrieb:
„Wir wollten nicht das Rathaus besetzen, wir wollten Barrikaden bauen. Wir waren über unsere  Macht verwirrt“.

Das Zentralkomitee der Nationalgarde bestand großteils aus Unbekannten, zumeist einfachen Menschen, die keine hochfahrenden Pläne hatten. Sie sahen ihre Aufgabe jetzt einfach darin, einigermaßen für Ordnung zu sorgen und Wahlen für einen 'Rat der Commune' zu organisieren. An diesen sollte die Macht übergeben werden und er sollte das schon länger und immer wieder geforderte Organ der kommunalen Selbstverwaltung werden. Die Wahlen fanden eine Woche später, am 26. März statt. Später wurde der Rat in 'Commune de Paris' umbenannt, er war Parlament und Regierung in einem.  


5.) Wer sind die Hauptakteure?

Auf der Gegenseite standen: Louis Jules Trochu, ein napoleonischer General, der am 4. September 1871 Chef der Regierung der nationalen Verteidigung wurde. Dann Léon Gambetta, Innenminister und für die Verteidigung verantwortlich. Von ihm stammt der Begriff „guerre à outrance“ - Krieg bis zum Äußersten. Trotz seiner großen Anstrengungen bei der Mobilisierung des ganzen Landes gegen den Einfall von Preußen-Deutschland musste er sich schließlich geschlagen geben. Er und Trochu verschwanden mit den Neuwahlen vom Februar 1871 von der Bildfläche.

Den bürgerlich-liberalen Außenminister der Regierung der nationalen Verteidigung, Jules Favre, hat Karl Marx „einen notorischen Erbschleicher“ genannt. Er spielte weiterhin eine wichtige Rolle, zunächst eine zweideutige. In den Waffenstillstandsverhandlungen mit Bismarck setzte er sich erfolgreich dafür ein, dass die Nationalgarde nicht entwaffnet werden musste.  Als dann aber deutlich wurde, dass die Nationalgarde eine wichtige Rolle bei der Errichtung der Commune spielte, bereute er seinen Einsatz lauthals und trat nun unmissverständlich für die Zerschlagung der Commune ein und für eine unnachsichtige Verfolgung ihrer Unterstützer. Schließlich Adolphe Thiers – ein übler Gewalttäter mit viel politischer Erfahrung. Bereits unter dem Bürgerkönig Louis Philippe war er Ende der 1840er Jahre Ministerpräsident gewesen. Dann wurde er Anführer der rechtskonservativen Opposition gegen Napoleon III.

Marx bezeichnete ihn als „prinzipien- und skrupellosen Opportunisten, der nur auf den eigenen Vorteil bedacht gewesen sei“. Im Kampf gegen die Commune trieb er die Versailler Truppen zu brutaler Gewalt an.

Aufseiten der Commune habe ich Hemmungen, nur einige Personen herauszugreifen und herauszustellen. Das Wesen der Commune bestand darin, dass ganz viele Namenlose, Unbekannte plötzlich wie aus dem Nichts heraus da waren, eine Rolle spielten und dann auch wieder verschwanden. Stellvertretend seien hier genant: Jules Vallès – Journalist und Mitglied der sozialistischen Internationale. Er spielte eine wichtige Rolle bei der Abfassung der Erklärung an das Französische Volk vom 19. April, des Programms der Commune, aus dem ich ein paar wichtige Gedanken vorlesen werde. Catherine Gebhardt– Bernot wird noch mehr von ihm berichten, denn er war auch Schriftsteller und Dichter.

Und noch ein Künstler: Gustave Courbet, einer der Begründer des „Realismus“ in der bildenden Kunst. Er war auch im Rat der Commune und organisierte die Zerstörung der Vendôme-Säule. Viel wichtiger war aber seine Beteiligung an der Gründung der Künstlervereinigung der Commune, deren Vorsitzender er dann auch wurde. Diese Vereinigung wehrte sich gegen die Unterscheidung von Kunst, Kunsthandwerk und Kunstproduktion und setzte sich für eine Vereinheitlichung aller handwerklichen Tätigkeiten ein, mit dem Ziel einen 'luxe communal' zu ermöglichen, einen Luxus für alle.

Schließlich ein Mann aus schon damals vergangenen Zeiten: Louis Charles Delescluze war Neojakobiner. Sein Vater war in der Revolution von 1789 ein wichtiger Mann gewesen und sein Sohn eiferte ihm nach. Er war dann schon selbst ein alter Mann, als er sich an der Commune beteiligte. Am 11. Mai wurde er ziviler Delegierter für Verteidigung im Wohlfahrtsausschuss. Am 25. Mai versuchte er noch, deutsche Militärs für eine Vermittlung mit der Regierung Thiers zu gewinnen. Als dieses Vorhaben scheiterte, suchte er den Tod auf einer Barrikade.

Dann zwei Frauen, die eine wichtige Rolle spielten. Zunächst Louise Michel. Lehrerin, Communarde, die sich nicht nur mit Erziehung und Bildung befasste, sondern die Commune auch mit der Waffe verteidigte. Ihre Memoiren sind ein beeindruckendes Zeugnis der damaligen Verhältnisse. Und André Leo, Journalistin, Schriftstellerin, die die Zeitschrift La Sociale leitete, das Organ der wichtigen Frauen-Union, eine etwas andere Organisation als die heutige Frauenorganisation der CDU mit gleichem Namen.

Also eine solche Aufzählung ist ganz problematisch, weil sie viele unter den Tisch fallen lässt, indem sie nur wenige nennt.


6.) Was war  das  Programm der Commune?

Es gab nicht das Programm der Commune, sondern viele verschiedene Vorstellungen, Gedanken, Manifeste, je nachdem, welcher Richtung eine Communarde oder ein Communard angehörte. Etwas, was man höchstens als Programm bezeichnen könnte, ist die Erklärung an das Französische Volk vom 19. April 1871.

Einige Auszüge:
„Die absolute Autonomie der Commune, die alle Ortschaften Frankreichs betrifft und jeder einzelnen ihre vollen Rechte sichert, und jedem Franzosen die volle Ausübung seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten als Mensch, Bürger und Produzent.
Die absolute Garantie der individuellen Freiheit und der Gewissensfreiheit.
Die ständige Einmischung der Bürger in die kommunalen Angelegenheiten durch die freie Äußerung ihrer Ideen, die freie Verteidigung ihrer Interessen, mit Garantien für diese Äußerungen durch die Commune, die allein die Aufgabe hat, die freie und gerechte Ausübung des Versammlungs- und Rechts auf Veröffentlichung zu überwachen und zu gewährleisten.
Die Organisation der städtischen Verteidigung und die Nationalgarde, die ihre Chefs wählt und allein über die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Stadt wacht. 
Die ständige Einmischung der Bürger in die kommunalen Angelegenheiten durch die freie Äußerung ihrer Ideen.
Die kommunale Revolution ist das Ende der alten staatlichen und klerikalen Welt, des Militarismus und der Vetternwirtschaft, der Ausbeutung, der Spekulation, der Monopole und Privilegien, denen das Proletariat seine Knechtschaft und das Vaterland sein Unglück und seine Katastrophen verdankt.“


7.) Was sind die Folgen der Commune gewesen, unmittelbar und später?

Die Regierung Thiers hatte schon im März keinen Zweifel daran gelassen, dass sie versuchen würde, die Commune zu vernichten, sobald sie die Mittel und Möglichkeiten dazu hätte. Im März 1871 verfügte sie aber gerade mal über 40 000 Soldaten gegen ungefähr 300 000 Angehörigen der Nationalgarde in Paris; wobei die Nationalgarde eben aus dem bewaffneten Volk bestand. Das heißt, sie besaß wenig militärische Organisation und Erfahrung und war deshalb den regulären Einheiten der Versailler Regierung kaum gewachsen. Auf jeden Fall wartete die Regierung in Versailles erst einmal ab, wohl wissend, dass die Zeit für sie arbeitete.

Die deutsche Besatzungsmacht verhielt sich zunächst neutral; anders die deutsche Führung in Berlin. Bismarck ließ im Laufe des April und Mai viele französische Kriegsgefangene frei und schickte sie zur Unterstützung der Regierung Thiers nach Versailles. Anfang April entschloss sich die Commune, eine Offensive gegen Versailles zu beginnen. Sie scheiterte, und was danach kam, gab einen Vorgeschmack auf das Kommende. Die Versailler Militärs scheuten sich nach dem zurückgeschlagen Angriff der Commune auf die westlichen Pariser Vororte Courbevoie und Neuilly nicht, Gefangene zu erschießen. Eine belgische Zeitung berichtete, in Versailles höre man nur von Einheiten, die keine Gefangenen machen. Offiziere rühmten sich, sie hätten verwundete Aufständische in die Seine werfen lassen.

Bis Mitte Mai eroberten die Versailler eine Festung nach der anderen und arbeiteten sich so langsam an die Mauern der Stadt heran, die Paris im Westen und Süden umgaben (im Norden und Osten saßen die deutschen Besatzer in den Forts).

Der 21. Mai war ein strahlender Frühsommertag. In den Tuilerien vergnügte sich eine entspannte Menge bei Musik. „Es mochten leicht zwölftausend und mehr Personen zugegen sein, alles ging soweit ordentlich zu, wenn man von einigen Arrestationen absieht“, schreibt der deutsche Korrespondent Gustav Schneider. Die friedliche und vergnügte Stimmung stand für das, was die Commune hätte sein und werden können, aber schon am Nachmittag endete dieses Idyll abrupt.Das Stadttor Point du Jour im Westen der Stadt war nicht besetzt – Schlamperei oder Verrat? Auf jeden Fall nutzten die Versailler Truppen die Chance und drangen von dort in die  Stadt ein.

Die meisten Nationalgardisten und auch die meisten ihrer Anführer kämpften jetzt tapfer bis zur Selbstaufgabe, darunter auch viele Frauen. Aber sie waren den regulären Einheiten der Versailler Regierung nicht gewachsen. Am Ende kam es in der „Blutigen Woche“ noch zu Übergriffen und Grausamkeiten vonseiten der Commune. Kommunarden steckten viele öffentliche Gebäude und auch einige Privathäuser in Brand, um den Eindringlingen den Weg zu versperren. Schließlich wurden im Laufe der Kämpfe auch rund 70 Geiseln erschossen, Geistliche, darunter der Erzbischof von Paris, und Gendarmen, die von der Regierung Thiers zurückgelassen und schon im März inhaftiert worden waren.

Am 28. Mai siegten die Truppen der Versailler Regierung. Und was jetzt folgte, steht in keinem Verhältnis zu dem, was an Gewalt von der Commune ausging. Die Versailler Militärs rächten sich im Auftrag der Regierung Thiers an den Kommunarden und im Grunde an der ganzen Stadt durch ein beispielloses Massaker an Männern, Frauen und sogar Kindern. Der deutsche Militärhistoriker Klaus-Jürgen Bremm beschreibt es als „genozidale politische Säuberungsaktion, die der revolutionären Hauptstadt auf Jahre hinaus das Rückgrat [bricht].“

Wie viele Kommunarden von den Versailler Truppen abgeschlachtet wurden, wie viele Frauen und Kinder drunter waren, wird wohl nie aufgeklärt werden. Realistische Schätzungen gehen von mindestens 20 000 Opfern aus. Tausende wurden inhaftiert – auch da gibt es unterschiedliche Schätzungen. Die meisten Historiker gehen von mindestens 35 000 Gefangenen aus, die zu einem großen Teil nach Neukaledonien im Südpazifik deportiert werden, 1000 km östlich von Australien. Im August fand in Versailles der erste Prozess gegen 17 Führer der Commune statt. Am 2. September wurden die Urteile verkündet. Das Ergebnis: Zwei Todesurteile, 2 Freisprüche, der Rest lange Haftstrafen und Deportationen, viele weitere Prozesse folgten. Einigen Tausend  Kommunarden gelang die Flucht ins Exil.


8.) Was bleibt von der Commune, bleibt überhaupt etwas übrig?

Ich denke eine Menge: Der Anarchist Kropotkin sagte in seiner eingangs zitierten Rede:  „Die Commune tat nur wenig“, ich glaube da irrt er. Die Commune hat in den kurzen 2 Monaten, die ihr blieben, eine Fülle von Gesetzen und Dekreten hinterlassen, die  bis heute Vorbildcharakter haben: 
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Männern und Frauen, Anerkennung unehelicher Kinder und unehelicher Lebensgemeinschaften, das Nachtbackverbot, eine genossenschaftliche Organisation von Unternehmen durch die Arbeiter, deren Eigentümer sich vom Acker gemacht hatten, polytechnische Schulbildung, gleichberechtigte Ausbildung auch für Mädchen und Frauen, zivile Schulen ohne Einfluss der Kirche, Trennung von Kirche und Staat, also kein politischer Einfluss der Kirche - um nur einige wichtige zu nennen.

Die Commune war ein Akt der Selbstermächtigung eines großen Teils der Pariser Bevölkerung, und zwar desjenigen Teils, der nicht über Vermögen oder hohe Einkommen verfügte. Diese Leute nahmen an den öffentlichen Angelegenheiten Anteil und wollten über sie mitentscheiden, an ihnen in ihrem Interesse mitarbeiten. Das beweisen die vielen Initiativen, die aus den verschiedensten Komitees und Clubs hervorgingen, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen und in denen über die kleinen und großen Fragen der Politik diskutiert wurde. Und die zusammen mit dem Zentralkomitee der Nationalgarde entschlossen waren, darauf zu achten, dass ihre Auffassungen und Interessen von den von ihnen gewählten Abgeordneten auch vertreten werden.
Diesen Charakter der Commune als Initiative des Volkes zeigt auch die große Bedeutung, die Frauen in ihr hatten, auch wenn sie leider nicht im Rat der Commune vertreten waren.

Also was war die Commune? Darüber lohnt es sich immer noch und immer wieder, intensiv nachzudenken und zu diskutieren.  Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Christine Ross beantwortet diese Frage in ihrem sehr schönen Buch über die Commune „Luxus für alle“ folgendermaßen:
„Die Commune hatte, wie Friedrich Engels unterstrich, keine Ideale zu verwirklichen. Dennoch brachte sie eine bedeutendere Philosophie der Freiheit hervor als die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, weil sie konkret war. Aus diesem Grund sah Karl Marx die größte soziale Errungenschaft der Commune in nicht mehr und nicht weniger als ihrem „eigenen arbeitenden Dasein“ - mit anderen Worten in der schlichten Tatsache, dass es sie gegeben hatte, mitsamt all ihren Grenzen und Widersprüchen.“


9.)  Die Commune in der Literatur

Einige Auszüge: Jules Vallès (Wer war er ? kurze Darstellung) Lesung auf Französisch (1 Seite), Victor Hugo  L´Année terrible und Rede zur Amnestie, 
Emile Zola  La Débâcle.

Literaturliste Commune
  • Michel Cordillot (Herausgeber), La Commune de Paris 1871,
  • Les Acteurs, L'Évenément, Les Lieux, Paris 2021, 1438 S.
  • Deluermoz, Quentin, Commune(s), 1870-1871, Une traversée des mondes au XIXe siècle, Paris 2020, 448 S.
  • Fournier, Eric, "La Commune n'est pas morte": les usages politiques du passé, de 1871 à nos jours, Paris 2013, 196 S.  
  • Florian Grams, Die Pariser Kommune, Köln 2021, 126 S.
  • Sebastian Haffner, Die Pariser Kommune, Berlin 2018, 57 S.
  • Steve Hollasky, Die Pariser Kommune, Berlin 2017, 181 S.
  • Pjotr Lawrow, Die Pariser Kommune, Geschehnisse, Einfluss, Lehren, Münster 2019, 227 S.
  • Prosper Lissagaray, Geschichte der Commune, Frankfurt am Main, 1971,441 S.
  • Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Moskau 1971, 74 S.
  • Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiter-Assoziation mit der 1. und 2. Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg und einer Einleitung von Friedrich Engels, Moskau 1971, 60 S.
  • Louise Michel, Die Pariser Commune, Übersetzungen: Veronika Berger und Eva Geber, Wien 2020, 415 S.
  • Thankmar von Münchhausen, 72 Tage – Die Pariser Kommune 1871 – die erste „Diktatur des Proletariats“, München 2015, 527 S.
  • Kristin Ross, Luxus für alle. Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune, Berlin, 2021, 204 S.

Zeittafel

1870
  • 19. Juli: Kriegserklärung Frankreichs an Preußen, Beginn des „70er Kriegs“.
  • 2. September: Kapitulation einer französischen Armee unter Führung Kaiser Napoleon III. nach der Schlacht von Sedan.
  • 4. September: In Paris wird nach Demonstrationen die Republik ausgerufen.
  • 31. Oktober: Aufstand revolutionärer Bataillone der Nationalgarde in Paris mit Forderung nach der Commune – scheitert.
1871
  • 22. Januar: Teile der Nationalgarde fordern die Fortsetzung des Krieges gegen Preußen/Deutschland und die Einrichtung der Commune. Das 101. Bataillon greift das Pariser Rathaus an, der Angriff wird blutig niedergeschlagen.
  • 28. Januar: Abschluss des Waffenstillstands zwischen der französischen Regierung von Adolphe Thiers und Otto von Bismarck.
  • 8. Februar: Wahlen in ganz Frankreich führen zu einer monarchistischen Mehrheit.
  • 18. März: Das Militär der Regierung von Adolphe Thiers versucht die Geschütze der Nationalgarde auf dem Montmartre und in Belleville abzutransportieren. Der Aufstand der Commune beginnt. Die Generale Lecomte und Thomas werden von der aufgebrachten Menge erschossen. Die regulären Truppen und die Regierung Thiers ziehen sich nach Versailles zurück.
  • 26. März: Wahlen für die Pariser Commune.
  • 28. März: Proklamation der Commune von Paris; das Zentralkomitee der Nationalgarde übergibt die Regierungsgewalt an den Rat der Commune.
  • 2. April: Erstes Gefecht gegen die Versailler Regierungstruppen bei Courbevoi im Nordwesten  der Stadt.
  • 3. April: Niederlage der Commune bei einer Offensive gegen die „Versailler“.
  • 19. April: Verkündung des Programms der Commune
  • 21. Mai: Versailler Regierungstruppen dringen im Westen nach Paris ein. Beginn der „Blutigen Woche“.
  • 24. Mai: Massenerschießungen von Kommunarden durch die Versailler Truppen. Brand öffentlicher Gebäude. Erschießung des Erzbischofs von Paris und anderer Geiseln durch Vertreter der Commune.
  • 28. Mai: Die Commune wird durch die Truppen der Versailler Regierung besiegt. Massenerschießungen von Kommunarden bis in den Juni 1871.